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06.11.2017
Dumme, welche die Regeln einhalten
Staatliche Institutionen wanken, und fast niemand nimmt es wahr
Auf schwarze Schafe im Gastgewerbe wird mit Fingern gezeigt, beim verlotternden Staat aber mag man lieber nicht hinsehen. Denn es gäbe richtig viel zu tun.
Der vielfach unverstandene kanadische Medienphilosoph Herbert Marshall McLuhan schrieb in den 1950er Jahren, die Staaten in ihrer bekannten Form würden sich mittelfristig auflösen. Seine Argumentation war speziell, behauptete er doch, die Flut neuer Medien werde die Druckschrift und damit den klassischen Staat zurückdrängen.
Es mag zu früh sein, um ein endgültiges Urteil zu fällen. Aber die Unzahl gescheiterter Staaten wie auch die um sich greifenden Sezessionsbewegungen legen nahe, dass McLuhan vielleicht richtiglag. Auch epochale Neuerungen wie Kryptowährungen oder die Blockchain, die Vertragsverhältnisse ohne Drittparteien wie Juristen oder Banken ermöglichen, deuten darauf hin, dass der Staat samt seiner Schriftlichkeit hinfällig wird.
Dass McLuhan hinsichtlich neuer Medien sowie der Bedeutung von Gedrucktem für staatliches Recht hatte, liegt auf der Hand: in jedem Smartphone und mit jedem Formular, das wir ausfüllen sollten. Aber auch andere Phänomene, die sich nicht zuletzt im Gastgewerbe zeigen, nähren die Vermutung, dass etwas faul ist im Staate.
«Problematisch wird es dann, wenn unsere Regeln nicht bekannt sind, nicht verstanden oder nicht akzeptiert und umgesetzt werden – sei dies nun bei Landes-Gesamtarbeitsverträgen, bei lebensmitteltechnischen oder feuerpolizeilichen und anderen Vorgaben.» Dies sagte mit besonderem Blick auf mangelnde Qualifikationen im Gastgewerbe vor bald einem Jahr Urs Graf, Gemeindepräsident von Interlaken, bernischer Kantonsparlamentarier und Jurist.
Zwar gebe es kulturelle und politische Unterschiede darin, wie wir Regeln akzeptieren, räumte er hinsichtlich politischer Parteien und unterschiedlicher kulinarischer Traditionen im extrem internationalisierten Interlaken ein: «Aber es muss unser Ziel sein», machte Graf klar, «dass die Regeln für alle gelten».
Der Philosoph McLuhan behauptete vor zwei Generationen auch, die Menschen hätten überhaupt zunehmend Mühe mit dem Schriftlichen. Insofern steht zu befürchten, dass die Tragweite dessen, was der Interlakner Gemeindepräsident da festhielt, gar nicht wahrgenommen wird. Dabei stützt das, was er ausdrückt, McLuhans These vom Verfall des Staates und müsste nicht nur das Stimmvolk und die Politik beunruhigen, sondern auch die Unternehmen.
«Es ist und bleibt eine unserer zentralen und ständigen politischen Aufgaben, unseren gemeinsam festgelegten Regeln, die ein Grund für den Erfolg der Schweiz sind, bei allen Nachachtung zu verschaffen», mahnte Graf: «Sonst sind jene die Dummen, die sich an die Regeln halten, und daran gehen auf Dauer die Unternehmen und das Land kaputt.»
Der Mahner aus Interlaken erscheint angesichts der aktuellen Prioritäten von Medien, Politik und Wirtschaft als einsamer Rufer in der Wüste. Aber er ist nicht allein: «Differenzierte und lösungsorientierte Ansätze haben es in diesem hektischen Umfeld schwer, was ich sehr bedaure, denn in der Politik ist überlegtes und konsensorientiertes Handeln zentral.» Dies sagte im GastroJournal Brigitte Häberli-Koller, Ständerätin für den Kanton Thurgau.
«Das Bewusstsein um die tragende Bedeutung unserer Institutionen scheint mir etwas verlorenzugehen», führte sie aus und schlug in dieselbe Kerbe wie ihr Politikerkollege aus dem Bernbiet: Das fehlende Bewusstsein sei «umso beunruhigender, als unsere Institutionen massgeblich zum Erfolgsmodell der Schweiz beitragen und nur funktionieren können, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich verantwortlich fühlen und verantwortlich handeln.»
Aufmerksam hinhören müsste man auch hier: Die Ständerätin warnt vor einer tiefgreifenden, zweischneidigen Krise unseres Gemeinwesens: Was vor Jahrzehnten unter der Parole «Mehr Freiheit, weniger Staat» zur bürgerlichen Losung wurde, brachte einerseits Liberalisierungswellen, verschüttete aber andererseits das staatsbürgerliche Bewusstsein.
Dabei hatte das Gastgewerbe dieses Bewusstsein, von dem auch die Ständerätin spricht, lange Zeit entscheidend geprägt: In Gaststuben hat man sich seit jeher getroffen, Verträge geschlossen und ab dem 17. Jahrhundert den modernen Staat diskutiert, skizziert und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weitum realisiert.
Es ist mithin bezeichnend, dass Ulrich Ochsenbein, prägender Gestalter des Bundesstaates von 1848 und Mitglied im ersten Bundesrat, ein Wirtesohn aus Nidau war – und dass es bis im frühen 20. Jahrhundert im Bundesparlament von Gastwirten und Hoteliers nur so wimmelte.
Mittlerweile ist nicht nur das Gastgewerbe aus Bundesbern verschwunden, sondern Handwerk und Gewerbe überhaupt. Inzwischen sind wir aber auch so weit, dass auf dem Papier Regeln stehen, die in der Praxis nicht funktionieren – und alle wissen es: Politiker so gut wie Küchenchefs und ihre Lernenden. Doch Klartext wie beim Schweizerische Alpenclub (SAC) hört man selten: «Es ist illusorisch, alle GAV-Bestimmungen einhalten zu können», teilte der SAC diesen Sommer bezüglich Berghütten mit.
Und vielleicht weil solch grosse Probleme grosse Massnahmen erfordern, verbeissen sich manche staatlichen Organe in Kleinigkeiten. Das erlebt man ebenfalls im Gastgewerbe: wenn bizarre Mehrwertsteuerregelungen kommen oder wenn die Lebensmittelkontrolle hier Berufsleute schikaniert, während dort unter der Affiche Lebensmittelverschwendung der Konsum abgelaufener Produkte öffentlich propagiert wird.
Peter Grunder / GastroJournal
- GastroJournal
- Überregulierung gefährdet Freiheit und Wohlstand
- Wenn der Staat seine Regulierungswut am Gastgewerbe auslässt
Dossier: Bürokratie
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